Sunset Brahmasthan of India

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Leseprobe aus: Dannis sucht das Superkind

Danni sucht das Superkind

Danni sucht das Superkind – Roman, magischer Realismus

von Jan Müller

Wenn Danni bloß wüsste, warum das Superkind gekidnappt wurde. Ja, er hat sich seinen neugeborenen Halbbruder weggewünscht und dabei die Mathemagische Ringformel seines Onkels gedacht. Und er hat sich gefreut, als das »Superkind«, das durch Gentechnik angeblich die Erbanlagen eines Genies haben soll, tatsächlich verschwunden war. Aber seine Mutter ist an dem Schock gestorben. Und jetzt macht er sich Vorwürfe und will das Superkind wieder finden.
Dabei gerät er zwischen die Fronten eines Geheimrings, der die Ringformel kennt, mit der man das ganze Universum verschwinden und erscheinen lassen kann. Die eine Partei huldigt dem Dunkeldrachen und will die Menschheit ausrotten, damit der Schädling Homo sapiens nicht auf andere Planeten überspringt. Die andere Partei will dem Menschen helfen, seine angeborenen Erbanlagen zu entfalten, damit er wieder im Einklang mit Mutter Erde lebt und aufhört, ein Schädling zu sein.
EUR 8,95 342 Seiten, Taschenbuch 15,24 x 22,86 cm, ISBN 978-3945004159 Blick ins Buch und kaufen.



1. Das Trommeln des Schädelrings

»Ahhh!« Da ist wieder das Plärren!  Danni hält sich die Ohren zu. Die Hände an den Ohren läuft er aus dem Haus, rennt die Bergstraße entlang in den Wald, zum Brombeergestrüpp an der Felsengruppe, schlüpft durch den Spalt in die Höhle und sinkt auf sein Strohlager. Der Schrei verebbt in der Ferne. Danni verschnauft. Sein Atem beruhigt sich …
Schweißgebadet wachte er auf. Seit Wochen immer derselbe Traum.
Vor dem Schlafzimmerfenster begann das Alpenglühen. Der schneebedeckte Gipfel des St. Eckhard glühte rosa, das erste Morgengrauen quoll ins Zimmer.
Warum nur verfolgte ihn der Babyschrei? Es begann immer mit einem Klaps. Dann kam das Plärren. »Mit dem Schrei, dem ersten Atemzug«, hatte ihm sein Onkel erklärt, »beginnt das Leben auf der Erde.«
Hatte auch er mit so einem Schrei begonnen? Er hatte damit aber niemanden an die Wand gedrückt, niemanden verjagt. Er war vor zwölf Jahren ganz normal zur Welt gekommen, nicht als »Superkind mit den Erbanlagen eines Genies« … Warum musste ausgerechnet er ein Superkind als Brüderchen bekommen? Womit hatte er das verdient?
Danni sah auf die Uhr: zwanzig nach vier. Viel zu früh zum Aufstehen. Er wälzte sich auf die andere Seite, zog die Decke über den Kopf und schlief wieder ein, bis ihn der Wecker aus dem Schlaf riss.
Als er aufstand, war es still in der Küche. Keine brodelnde Kaffeemaschine. Auf dem Tisch lag ein einsamer Zettel:
»Dani, ich hoffe, du kommst heute alleine klar. Bin eben erst heimgekommen und todmüde. Um 4.20 Uhr kam Kit auf die Welt. Geh am besten gleich nach der Schule ins Spital und begrüße ihn. Bis heute Abend. Urs«
Typisch Urs: »Dani« mit einem »n«! Zwei waren ihm wohl zu viel für seinen Stiefsohn. Seit er seinen eigenen Sohn erwartete, drehte sich alles nur noch um das »Superkind«. Danni zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Müll. Alleine frühstücken. Auch gut. Besser als mit Urs. Gerade heute. Der Tag war sowieso versaut.
Er bestrich sein Pausebrot mit Butter und packte es mit Schweizer Käse, sauren Gurken und einem Apfel in seine Büchse.
Noch einmal fischte er den zerknüllten Zettel aus dem Müll, las ihn ein zweites Mal und zerfetzte ihn in winzige Schnipsel. Dabei fiel ihm der braune Umschlag ein, auf den Onkel Jeronimus geschrieben hatte: »Bitte vor der Geburt lesen! Damit du weißt, was auf dich zukommt.«
Er lief zurück in sein Zimmer, nahm den Umschlag vom Tisch und packte ihn in seinen Ranzen. Bevor er ins Spital ging, musste er unbedingt lesen, was ihm Onkel Jeronimus geschickt hatte. Aber wann?
Als er die Waldstraße ins Tal radelte, ging er im Geist seinen Stundenplan durch. Beim Turnen konnte er nicht lesen, auch nicht in Deutsch, seinem Lieblingsfach. Erst in der Mathestunde ging es, das war sowieso sein Langweilfach. »Vor der Geburt lesen!« Was wusste Onkel Jeronimus über das Superkind? »Damit du weißt, was auf dich zukommt.« Das wusste er auch ohne seinen Onkel.
* * *
Die hellgrünen Vorhänge waren zugezogen und spendeten Schutz vor der brütenden Julihitze. Mechanisch verfolgte Danni die Bewegung des Mathelehrers, der mit quietschender Kreide Formeln aus Buchstaben, Klammern und Gleichheitszeichen an die Tafel kratzte. Das rhythmische Quietschen und Klopfen der Kreide, untermalt vom Vortrag über binomische Formeln, schläferte ihn ein. Die Augenlider wurden ihm schwer, sein Kopf sank auf die Brust …
Danni gab sich einen Ruck. Nein! Er durfte jetzt nicht einnicken! Er hatte noch was Wichtiges zu tun.
Er schlug das Algebrabuch auf und versenkte seine Nase in die Zeile »(a – b)2 = a2 – 2ab + b2«. Gleichzeitig zog er unter der Tischplatte das Schreiben seines Onkels aus dem Umschlag und legte es so auf seinen Schoß, dass es beim Lesen aussah, als schaue er ins Mathebuch.
Es war ein Schnellhefter mit dem Titel »Ring des Wissens«. Darunter war ein Ring aus Totenschädeln abgebildet, alle im Profil, aber mit unterschiedlicher Mundstellung. Die Unterschiede waren mit dicken Linien verdeutlicht, die wie Schriftzeichen wirkten. Aha, wieder eine Botschaft seines Onkels in Geheimschrift!
schädelring
Onkel Jeronimus schickte ihm gerne verschlüsselte Botschaften zum enträtseln. Inzwischen konnte er die Geheimschriften meist ziemlich schnell knacken. Hieroglyphenähnliche Bilder, Gegenstände mit bestimmtem Anfangslaut, Piktogramme, die keinen Klang, sondern einen Sinn darstellten, oder wie arabisch wirkende Schrift von rechts nach links, die im Spiegel betrachtet plötzlich wie ganz normale Schreibschrift zu lesen war.
In der Mitte des Rings war ein Schädel mit weit aufgesperrter Kinnlade, als wollte er schreien.
Danni erschrak. Da war er wieder: Der Babyschrei seines Traums. Er hörte deutlich den Schrei.
Auch die anderen Schädel ließen jetzt den Klang ihrer Mundstellung erklingen. Drei Schädel zeigten einen geschlossenen Mund mit Nasenschlenker, ein anderer ein Zeichen tief hinten in der Kehle. Der aufgesperrte Mund kam sogar vier mal vor. Danni ahmte die Mundstellungen nach, da hörte er im Kopf ein rhythmisches Trommeln, und die Laute wurden deutlicher. Der rhythmische Klang schwoll an, wurde lauter, übertönte die Stimme des Mathelehrers. Das Klassenzimmer samt Buchstaben, Ziffern und Bruchstrichen verblasste, das Trommeln wurde zum Sprechgesang, zu einer Beschwörungsformel, die ihn schwindelig machte und wie ein Strudel in den Schädelring hineinsog. Er wollte sich losreißen, wo anders hinschauen, aber es war nicht möglich. Er saß nicht mehr im Klassenzimmer, las kein Manuskript, sondern erlebte einen Film wie im Kino. Was hatte der Schädelring mit ihm gemacht? War das Trommeln eine Zauberformel?
Über einer mächtigen Trauerweide brauten sich dunkle Wolken zusammen. Danni roch feuchte Erde, kühler Wind wehte ihm um die Nase. Dunkler wurden die Wolken. Blitze zuckten. Regen prasselte nieder. Ein schmächtiger Junge mit schwarzem Haar blickte ängstlich zum donnergrollenden Himmel und lief auf die Weide zu.
Mit lautem Knall schlug ein Blitz in die Weide und spaltete ihren Stamm. Kreidebleich floh der Junge an den Waldrand, verschnaufte, schaute zurück. Danni schätzte ihn auf zwölf oder dreizehn Jahre, etwa in seinem Alter.
Rotgelbe Zungen loderten aus der brennenden Weide. Die Rauchschwaden formten am Himmel einen riesigen Kopf, der mit glühenden Augen den Waldrand absuchte. Aus dem Geäst erscholl ein Krähenruf: »Kaaf! Kaaf! Kaaf!«
Danni erlebte alles wie ein heimlicher Beobachter. Im Hinterkopf wusste er, dass er in der Mathestunde saß und jederzeit vom Lehrer aufgerufen werden konnte, aber es gelang ihm nicht, die Welt der Geschichte zu verlassen. Wie im Film verfolgte er, wie der Junge in den Wald floh bis zu einer Eiche mit mächtigem Stamm, in dem ein breiter Riss klaffte. Der Junge zwängte sich durch den Spalt und verbarg sich im hohlen Stamm.
Eine Weile strich der schwarze Rauchkopf suchend über die Bäume, dann löste er sich in Luft auf. Der Junge verharrte reglos, bis die Luft rein war. Eben wollte er sein Versteck verlassen, da stolperte er über etwas Hartes. Er scharrte das Laub beiseite und entdeckte einen eisernen Ring. Als er daran zog, öffnete sich eine Falltür aus roh behauenen Brettern. Danni roch modrigen Erdgeruch.
Ein Balken mit eingekerbten Stufen führte hinunter in einen Schacht. Der Junge stieg hinein. Aus der Decke des Schachtes ragte ein Wurzelende, daran hing eine brennende Öllampe und tauchte den Schacht in braungelbes Licht. Der Junge schaute sich nach allen Seiten um und lauschte in die Stille, Dann nahm er die Öllampe ab und schlich damit auf Zehenspitzen vorwärts.
Der Schacht mündete in eine Höhle. An den Wänden hingen Schrumpfköpfe neben Schwertern und Äxten. Auf staubbedeckten Kommoden standen Totenschädel mit glühenden Kohlenaugen, die ihn mit ihren Blicken verfolgten. Vom Höhlenende drang ein bläuliches Leuchten. Der Junge ging darauf zu.
Aus einer Ecke  kam in Kichern. Der Junge erstarrte. »Hallo?« raunte er und lauschte. Keine Antwort. Alles blieb still. Auf Zehenspitzen näherte er sich dem bläulichen Licht, das aus einem gläsernen, von Spinnweben überwobenen Schrein kam. Ein offenes Schmuckkästchen stand darin, gefüttert mit tiefblauem Samt. Über dem Samtkissen schwebte kreisend ein Armreif aus Perlmuttblättchen. Darauf leuchteten bläuliche Zeichen mit flimmernden Punkten, die Danni bekannt vorkamen.

ring in mundschriftMit großen Augen betrachtete der Junge die flammende Schrift, da murmelte eine sanfte Stimme: »Einen guten Riecher hast du, junger Freund. Das Kostbarste der ganzen Höhle hast du aufgestöbert.«
Der Junge fuhr herum. Keine Armlänge entfernt lächelten ihn zwei Augen an, über denen sich buschige Brauen wölbten. Darunter schmale, zum Lächeln verzogene Lippen, aber weder Kopf noch Körper waren zu sehen. Eine grünliche Knochenhand erschien aus dem Nichts, deutete auf den Kamin neben dem Glasschrein und schnipste mit den Fingern. Flammen flackerten auf. »Wärm dich am Kamin, Theo. Du zitterst ja am ganzen Leib.«
Theo zuckte zusammen: »Woher kennen Sie meinen Namen?«
Während er sich dem Feuer näherte, ließ er das seltsame Wesen nicht aus den Augen. Dieses sprach ruhig auf ihn ein: »Keine Angst, Theo. Bei mir bist du sicher. Hier findet dich niemand.«
»Aber er hat mich verfolgt.«
»Wer, wann, wo?«
»Als der Blitz in die Weide fuhr stieg Rauch zum Himmel und formte einen Kopf. Der hat mich gesucht – mit rot umränderten Augen.«
»Wirklich? Oder gaukelt dir dein schlechtes Gewissen was vor?«
»Ich hab’s genau gesehen. Er hat nach mir gesucht.«
»Hm!« Die Augenbrauen im unsichtbaren Gesicht zogen sich zusammen, die Mundwinkel zeigten nach unten. »Warum sollte dich der Rauchkopf suchen?«
»Ich will weg. In den Osten.«
»Und warum?«
»Ich halt’s hier nicht mehr aus. Essen, trinken, Wasser, Luft, alles wird ›naturverbessert‹. Wie soll man da noch atmen!«
»Na, na, na! Spricht man so vom Tammat-Hemer Duft?«
»Duft? Der stinkt doch zum Himmel, dass die Kühe husten! Ich kann’s einfach nicht mehr riechen. Ich ersticke.«
Theo griff sich an die Kehle, als bekäme er keine Luft.
»Du riechst es? Mit der Nase?«
»Womit denn sonst? Etwa mit den Füßen? Es beißt und ätzt, es kratzt im Hals. Ich komm mir vor, als wäre ich aus Kunststoff.«
»Hmmm … Und du meinst, im Osten ist es besser? Das Reich des Geistes ist noch viel gefährlicher. Im Inneren Gebirge lauern tausend Stollen, Schluchten, Abgründe. Die meisten finden nie wieder heraus. Und Schwellhüter versperren dir auf Schritt und Tritt den Weg. Ein Grünschnabel wie du ist im Osten völlig aufgeschmissen.«
Theo wärmte sich die Hände über dem Feuer, sah in die Flammen und schwieg. Dann schaute er sich fragend um: »Ist hier nicht irgendwo ein unbewachter Übergang?«
»Unbewacht?« Ein meckerndes Lachen erklang. »Die Grenze wird von Hemmas bewacht. Wehe dir, du nennst ein falsches Passwort!«
Theos Augen tasteten die Höhlenwände ab. »Diese Höhle hat doch einen Hinterausgang, oder?«
»Wie kommst du darauf?«
»War hier nicht früher mal ein Grenzübergang?«
»Der ist längst verschüttet.« Sein Gegenüber musterte ihn scharf. Dann flackerten die Augen auf. »Wenn du auf Teufel komm raus nach drüben willst, wüsste ich eine Lösung.«
»Und zwar?«
Das Lächeln kam näher, wurde leiser. »Kannst du schweigen?«
Theo nickte.
Die grünliche Knochenhand griff durch die Spinnweben in den Glasschrein, holte das Schmuckkästchen mit dem Armreif heraus und stellte es auf die Theke. »Dieser Ring bringt dich ins Reich des Geistes. Bei jedem Hemma verraten dir die Schriftzeichen das Passwort.«
»Ein Passwort für alle Hemmas?«
»Unsinn. Für jeden Schwellhüter das passende.«
»Aber die Schriftzeichen stehen doch still. Wie soll das gehen?«
»Siehst du, wie die Zeichen flimmern? Sie verändern sich und zeigen dir jeweils das richtige Wort. Dieser Ring ist der Mund, das Sprachrohr für die Botschaft des Augenblicks. Die Mundschrift erzeugt in deinem Kopf den Klang.«
Theos Augen blitzten. »Kann ich ihn haben?«
Er wollte danach greifen, aber die Knochenhand kam ihm zuvor. »Klar. Du musst ihn nur bezahlen.«
»Aber ich habe kein Geld.«
»Bekommst du kein Taschengeld von deinem Vater?«
»Hab keinen Vater. Und von den fremden Onkels will ich nichts.«
»Oho! Und deine Mutter?«
»Sie sagt, für Spielzeug gibt‘s kein Geld. Weil sie für jede Blüte voller Nullen Stunden an der Walze stehen muss.«
»Walze?«
»In der Druckerei der Notenbank.«
»Ohooo!« Die Knochenhand rieb nachdenklich ein unsichtbares Kinn. »Dann gibt’s nur eines: Du bezahlst mit Fantasiegeld.«
»Echt? Das geht? Was muss ich tun?«
»Wir spielen Kaufladen und feilschen um den Preis, den schreibst du auf ein Blatt der Fantas-Eiche, unterschreibst und der Ring ist dir.«
»Geritzt! Was kostet er?«
Bei dem Wort »geritzt« flackerten die Augen des Verkäufers für einen Augenblick wie rot umrändert.
»Nun ja …« Die Knochenfinger trommelten aufs Pult, die Pupillen rutschten nach links außen. »Der Ring ist über zehn Milliarden Fantas wert. Abzüglich zwei Prozent Skonto für Barzahlung kostet er genau …« Der Zeigefinger kratzte zehn Ziffern in den Staub der Theke: »9 876 543 210 FAN.«
»So viel? Dafür müsste meine Mutter lebenslänglich an der Walze stehen.«
»Ach was! Eine Banknote in diesem Wert ist genauso schnell gedruckt wie jede andere.« Das Lächeln wurde breit. »Es wäre allerdings die wertvollste Note der Welt, da jede Ziffer bekanntlich nur einmal auf Banknoten stehen darf. Nur die Null darf alle anderen ersetzen.« Der knöcherne Zeigefinger zog um die Ziffern einen Rahmen. »Bei zehn Ziffern ist der höchste Wert also ein Milliardenbetrag mit der größten Ziffer vorn.«
»Die wertvollste Note der Welt?« Theo überlegte. »Und wie erschafft man Kleingeld in der Fantasie?«
»Genau wie Großgeld, nur mit Komma vorn.«
Hinter Theos Stirn rasselte der Rechner. Er wischte mit dem Handrücken die Ziffern von der Theke, malte mit dem Zeigefinger ein neues Kästchen in den Staub und schrieb hinein: 0,000 000 001. »Ich biete ein Milliardstel Fantas.«
Das Lächeln wurde breiter. »Wunderbar, mein Sohn. Haarscharf kalkuliert!« Die Knochenhände rieben sich genüsslich aneinander. »Dem Wert des Rings wirst du damit aber nicht gerecht. Du stehst vor dem mächtigsten Zauberring aller Zeiten, dem Ring des Wissens aus dem uralten Vermächtnis von Atlantis. Die Ringformel beschreibt den Kreislauf des Universums: Wie aus Uni das Versum, aus Einheit die Vielfalt entsteht. Damit kannst du jedes Ding erscheinen und verschwinden lassen.«
»Bombastisch!« Theos Miene verriet nicht, ob das bewundernd oder spöttisch gemeint war. »Also gut, ich biete genau die Mitte zwischen der größten und der kleinsten Summe: einen Fantas.«
Das Lächeln wiegte sich hin und her und senkte die Stimme zum Flüsterton. »Lass dich nicht lumpen, Junge! Du kannst so viele Banknoten beschriften, wie du Blätter an der Fantas-Eiche hast. In der Fantasie ist jeder Milliardär. Ich dagegen darf pro Gegenstand nur eine Banknote verlangen.« In diesen Worten lag so viel Nachdruck, als sei das Feilschen um Fantasiegeld blutiger Ernst.
»Wer sagt mir, ob das alles stimmt?«
»Also gut. Pass auf! Ich zeig dir jetzt, wie aus der Ringformel eine Form entsteht.« Das Lächeln ergriff den Ring, rief »Màti« und schlug ihn hart auf die Kante, bis ein Stück abbrach und hinter die Theke fiel.
Theo erschrak. »Shit! Jetzt ist er kaputt!«
»Keine Angst, der Ring ist unzerstörbar. Du kannst ihn zerbrechen, so oft du willst. Schau dir das Bruchstück an! Aber Vorsicht! Nicht berühren!«
Theo trat um die Theke und erschrak: In Kniehöhe über dem Boden schwebte ein bläulich schimmernder Krummsäbel mit hauchdünner Klinge.
»Das ist Màti,« rief das Lächeln stolz, »die schärfste Klinge der Welt. Bloß nicht berühren! Das darf nur der Ringbesitzer.«
Theo streckte abwehrend die Hand aus, da bewegte sich der Säbel, und der Griff schmiegte sich zutraulich in seine Hand. Eine innere Kraft schien ihn zu lenken. Theo stand aufrecht da wie ein Herrscher mit seinem Zepter, mit klarem, furchtlosem Blick.
»He! Was soll das? Lass den Säbel los!« Die Brauen des Lächelns stießen an der Nasenwurzel zusammen. »Schnell! Drück Màti zurück in den Ring!« Die Knochenhand hielt Theo den Ring entgegen, aber Theo rührte sich nicht. Felsenfest stand er da und sah dem Lächeln selbstbewusst in die Augen. Seine Hand umklammerte Màti wie einen Rettungsring. Eine ungeahnte Kraft und Klarheit strömte von der Klinge in seine Hand.
Da erklang vom Höhleneingang das Schnauben eines Pferdes. Theo schaute zum Eingang. Der Säbel entglitt seiner Hand. Die Knochenhand hielt den Ring an die Klinge, die wieder nahtlos mit dem Ring verschmolz. Theo prägte sich die Zeichen ein, die an dieser Stelle leuchteten. Auch Danni sah die Zeichen jetzt vor sich. Plötzlich wusste er, woher er sie kannte: Diese Zeichen hatten im Schädelring die Mundstellung verdeutlicht. Diese Buchstaben hießen also »Màti«. Eigentlich leicht zu merken: Der offene Mund war A, der geschlossene M. 
MATI
Am Höhleneingang knarrten Schritte. Auf den Stufen erschienen schwarze Stiefel mit Sporen. Das Lächeln riss einen Wandschrank auf. »Schnell hier rein, Theo! Und keinen Mucks! Hast du etwa die Falltür offen gelassen?«
Theo nickte schuldbewusst und huschte ins Dunkle. Jetzt sah Danni den Schrank von innen. Der Schrankschlüssel wurde umgedreht und abgezogen. Im Kleiderschrank roch es modrig. Tho tastete um sich und befühlte die Kittel, die neben ihm hingen. Aus den Ritzen der hölzernen Rückwand kam ein kühler Luftzug. Durch das Schlüsselloch in der Schranktür leuchtete Licht. Theo bückte sich und spähte hindurch. Im Schattenriss des Schlüssellochs sah Danni die Höhle.
Eine dunkle, baumlange Gestalt stapfte im Stelzenschritt auf die Theke zu: schwarzer Samtmantel mit Stehkragen, darunter Reitstiefel, darüber ein tief in die Stirn gezogener Dreispitz.
Das Lächeln verbeugte sich tief. »Welche Ehre, Euro Exzellenz! Womit darf ich dienen?«
Aus dem Dunkel zwischen Kragen und Dreispitz hauchte es heiser: »Den Ring!«
»Welchen Ring?«
»Den Großen.«
»Mit der Formel?«
Danni hörte Theos Herz klopfen, der Atem stockte ihm.
»Das ehrt mich, Euro Exzellenz, aber der mit der Ringformel ist bereits reserviert. Ein junger Käufer hat zur Zeit das Vorkaufsrecht.«
»Hier!«
Eine schwarz behandschuhte Hand ließ ein großes, silbern glänzendes Eichenblatt auf die Theke flattern. Das Lächeln betrachtete bestürzt das Blatt. »Neun Milliarden, achthundertsechsundsiebzig Millionen, fünfhundertdreiundvierzig Tausend, zweihundert und zehn Fantas … Woher wissen Euro Exzellenz den Preis?«
Zwei Finger im schwarzen Handschuh wiesen nach oben.
»Oh, Euro Exzellenz kommen im Auftrag seiner Dunkelgrauen Eminenz?« Das Lächeln druckste herum. »Exzellenz müssen entschuldigen, aber wenn ich das Vorkaufsrecht missachte, verliere ich meine Lizenz. Ich bitte Euro Exzellenz untertänigst, sich eine halbe Stunde zu gedulden. Vielleicht vermag ich den Käufer umzustimmen und den Ring noch einmal loszueisen.«
Theo wurde schwindelig. Sollte ihm dieser Rettungsring im letzten Moment durch die Lappen gehen? Er verlor das Gleichgewicht und rumste gegen die Schranktür. Der Reiter horchte auf, sein Dreispitz drehte sich über dem Kragen langsam nach links und rechts, dann schritt er direkt auf die Schranktür zu.
Ein Zischen war zu hören, dann der unterdrückte Ausruf: »Oh! Euro Exzellenz verfolgen einen Ausreißer!«
Es wurde dunkel vor der Tür, der Reiter schien direkt davor zu stehen. Die dumpfen Geräusche ließen vermuten, dass das Lächeln alles unternahm, um den Reiter von der Schranktür abzulenken.
Als wieder Licht durch das Schlüsselloch drang, stand der Reiter an der Theke, steckte sein Eichenblatt fauchend wieder ein, drehte sich auf dem Absatz um, schritt zum Ausgang, ballte die Faust und verschwand.
Nach einer Weile klirrte der Schlüssel im Schloss, und die Schranktür ging auf.
»Du musst schleunigst verschwinden«, kam es im Flüsterton. »Der Reiter hat Verdacht geschöpft. Wenn er dich entdeckt, komme ich in Teufels Küche. Hast du dich entschieden? Nicht auszudenken, was wäre, wenn seine Dunkelgraue Eminenz den Ring bekäme.«
»Also gut. Fantasiegeld hab ich ja genug.«
»Handschlag, und der Kauf ist besiegelt!«
Die Knochenfinger ergriffen Theos Hand. Während er einschlug, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig: Die Wurzelspitzen an Decke und Wänden, an denen die Öllampen hingen, ringelten sich, dass die Lampen schwankten und das Licht der Höhle flackerte. Die Schrumpfköpfe blähten ihre Nasenflügel, schnupperten zur Ladentheke und öffneten die Münder wie zum Schrei.
Eine kühle, nach Laub und Pilzen riechende Brise wehte ein Eichenblatt herein und legte es auf die Theke. Aus einem Tintenfass flog eine Gänsefeder und schmiegte sich in Theos Hand. Von einem Spinnrad sprang eine Spindel herbei und stach in Theos Fingerspitze, aus der drei Blutstropfen die Feder tränkten.
Theo riss die Hand zurück. »Was soll der Spuk?«
Das Lächeln zog sich breit von einem unsichtbaren Ohr zum anderen. »Waren wir uns nicht einig? Nur die Zahl aufs Blatt schreiben und unterschreiben.«
»Soll ich etwa mit Blut unterschreiben? Niemals!«

Wie aus dem Nichts erscholl Klingeln und lautes Gejohle. Jemand packte Danni am Arm und zerrte ihn aus der Höhle. Danni rieb sich die Augen wie nach einem bösen Traum. Jetzt sah er hellgrüne Vorhänge und saß wieder im stickigen Klassenzimmer.
Oje! Hatte ihn der Mathelehrer aufgerufen? Was konnte er dafür, dass er vom Unterricht nichts mitbekommen hatte. Er konnte doch nicht ahnen, dass sich im Schädelring eine Zauberformel verbarg, die ihn in eine andere Welt entführte. Lachten ihn jetzt alle aus? Wurde er wieder zum Gespött der Klasse?


Ende der Leseprobe

Inhalt

Teil 1

1. Das Trommeln des Schädelrings   
2. Der Rutsch durch die Liegende Acht   
3. Das Superkind   
4. Komplikationen   
5. Belgische Bahnfahrt   
6. Der Duft von Tammat-Hêmat   
7. Der Streit um das Anfangswort   
8. Der Blitz im Löwenmaul   
9. Spuk im Nachtwald   

Teil 2

10. Ankunft in Màthema-Àttic   
11. Im Attic   
12. Gedankenfilm
13. Er-Innerung   
14. Das Souvenier des Haarspalters   
15. Am Ick-Eck   
16. Im Bauch des Drachen  
17. Die Stätte der Gestaltung
18. Die Meht-Amma

Teil 3

19. Im Sumpf belauscht
20. Mâ und Âma
21. Amt am Tam
22. Kosellke
23. Der Lesering der Ringleser
24. Bei Monsieur Mart
25. Sidhartas Klangteppich
26. Also dann …
27. Onkel, wo gehst du hin?   

Anhang

Textstellen in Ringsprache
Lautwandel im Ring
Dimensionsticket zum Ring des Wissens
Danksagung
Blick ins Buch und kaufen.

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